2016

Scharfe Rezension – Neugebauer

Scharfe Rezension von Hannes Kammerstätter über Wolfgang Neugebauers Buch „Der österreichische Widerstand 1938-1945“ in der Zeitung der ÖVP-Kameradschaft der Politische Verfolgten und Bekenner für Österreich „Der Freiheitskämpfer“ 65/Nr.47 Dez. 2016: Download Die fundamentale Kritik bezog sich darauf, dass Neugebauer aus seiner engen sozialdemokratischen Sicht die Leistung des österreichischen Widerstandes entwertet bis verschweigt.

Zum „Tragbaren Vaterland“ gehört auch die kritische Sichtweise auf die historische Standardliteratur. Ihre „Meistererzählung“ geht davon aus, dass Österreich für unsere jüdischen Landsleute ganz und gar kein „tragbares Vaterland“ gewesen wäre, denn es wäre der austrofaschistische Wegbereiter der NS-Herrschaft gewesen. Wer solches behauptet, ignoriert die patriotische Gesinnung und auch die nationalsozialistische Bedrohung der jüdischen Landsleute. Dieser Meistererzähung fehlt auch i Haus der Geschichte Österreichs die wissenschaftliche Grundlage. Das Buch des in anderen Bereichen sehr verdienstvollen Historikers Wolfgang Neugebauer ist ein besonders drastisches Beispiel dieser „Meistererzählung“.

Rezension zu: Wolfgang Neugebauer, Der österreichische Widerstand (Wien 2015)
„Geschichte ist Dichtung, die stattgefunden hat. Dichtung ist Geschichte, die hätte stattfinden können“ (André Gide).
Wolfgang Neugebauer verfolgt mit seiner Darstellung des österreichischen Widerstandes eine politische Absicht: die stillschweigende Exkulpierung der sozialdemokratischen Führung wegen ihres mangelnden Widerstandes gegen die NS-Terrorherrschaft.

Dazu bedient sich Neugebauer folgender (Um-)Deutungsansätze:

Neugebauer verwendet das breitest mögliche Widerstandsverständnis des DÖW, das alle Personen, Gruppen und Strömungen dissidenter politischer und religiöser Kleingruppen einschließt, die von der NS-Verfolgung betroffen waren. Demgegenüber wertet Neugebauer den geistigen Widerstand vor und den organisierten politischen Widerstand seit dem Beginn des NS-Terrors gegen Österreich und den das Ende der NS-Herrschaft beschleunigenden organisierten überparteilichen Widerstand deutlich ab.
Neugebauer diskutiert nicht einmal die historische Tatsache, dass Österreich als erster Staat seit März 1933 den Kampf gegen den NS-Terror aufnahm und ihm geistigen und militärischen Widerstand leistete. Die dafür einschlägigen Medien des geistigen Widerstandes in der Vaterländischen Front und in der Wochenschrift „Der christliche Ständestaat“ bleiben in Neugebauers Darstellung unerwähnt.
Neugebauer unterschlägt die historische Tatsache, dass die sozialdemokratische Führung in der Emigration in London und New York alles in ihrer Macht stehende unternahm, um die Bildung einer österreichischen Exilregierung zu verhindern. Neugebauer nimmt von den Versuchen der nichtsozialdemokratischen Exilpolitiker, eine österreichische Exilregierung zu bilden, keine Notiz. Er nennt dazu in seinem Kapitel „Exilwiderstand“ keinen einzigen einschlägigen Namen und verschweigt sogar, dass die österreichischen Sozialdemokraten in Schweden diese Parteilinie heftig kritisierten.
Neugebauer unterstellt den Schlüsselfiguren des organisierten Widerstandes gegen die NS-Herrschaft in Österreich, dass sie ihre Rolle zur Befreiung Österreichs überschätzt hätten. Er ist der Ansicht, dass der österreichische Widerstand den in der Moskauer Deklaration geforderten Beitrag zur Befreiung Österreichs nicht im ausreichenden Maß erbracht habe.
Neugebauer vertritt die These, der österreichische Widerstand sei parteipolitisch fragmentiert gewesen. Damit entspricht er der sozialdemokratischen Parteilinie, jede gemeinsame Widerstandsaktion mit Kommunisten zu verbieten bzw. konkrete derartige Aktionen zu bestreiten. Daher entwertet er auch den unter konservativer Führung organisierten überparteilichen Widerstand, der Sozialdemokraten und Kommunisten in einem gemeinsamen Netzwerk einschloss. Da es in Neugebauers Sicht einen solcherart gemeinsamen Widerstand nicht geben durfte, ist er nicht einmal dazu bereit, den O 5-Widerstand in seiner überparteilichen Bedeutung zu würdigen.

Neugebauer unterstellt den Emigranten und den Exilwiderstandskämpfern „ein schönfärberisches Österreichbild“:
„Unter Vorwegnahme der späteren Opfertheorie sahen sie die Österreicher als ein von den Deutschen vergewaltigtes Volk, das sich heldenhaft zur Wehr setzte. Der Widerstand wurde in diesem Sinn ausschließlich als ein nationaler Befreiungskampf interpretiert, an dem sie aktiv Anteil nehmen wollten“ (224).
Neugebauer beschränkt sich im Bezug auf den innerösterreichischen Widerstand auf NS-Quellen, d.h. auf vom NS-Apparat aufgedeckte, verfolgte und daher zumeist gescheiterte Widerstandsaktivitäten. Die Eigenberichte über nicht zur Gänze aufgedeckte und daher zumindest teilweise gelungene Widerstandsaktivitäten entwertet Neugebauer als unverlässliche Quellen und unterstellt ihren Autoren Schönfärberei und Selbstüberschätzung.

Neugebauer sieht überparteilichen Widerstand höchstens in der Endphase 1944/45 und tut ihn auf 6 von 351 Seiten als vergeblichen Versuch von Karrieristen ab, „eine politische Rolle in der Nachkriegszeit zu spielen“ (266). Weil dieser überparteiliche Widerstand in GESTAPO- und NS-Justiz kaum dokumentiert ist, hält Neugebauer ihn für aus taktischen Gründen maßlos übertrieben. Somit sei dieser überparteiliche Widerstand „keineswegs die Dachorganisation oder Leitungsgruppe des österreichischen Widerstandes“ (264).
Neugebauer widmet dem Widerstand in Gefängnissen und Lagern nur 8 von 351 Seiten seines Buches – übrigens erst in einem der letzten Kapitel – und stellt dabei den sprichwörtlichen „Geist der Lagerstraße“ als Mythos in Frage. Gruppenegoismen seien stärker gewesen als die Solidarität der österreichischen Häftlinge. Neugebauer gibt aber zu, dass die österreichischen KZ-Häftlinge in Dachau und Buchenwald in der Wiederherstellung eines eigenständigen Österreich übereinstimmten. Führende Sozialdemokraten waren nicht im KZ und daher auch nicht auf der „Lagerstraße“. Die Namen der anderen Patrioten auf der Lagerstraße will Neugebauer nicht nennen.

Im kurzen Kapitel über den jüdischen Widerstand vermeidet Neugebauer darüber zu berichten, dass ein Großteil der österreichischen Zionisten patriotische Österreicher waren; dass der Ständestaat die rassistische Verfolgung mindestens vier Jahre lang von den jüdischen Österreichern ferngehalten hat; dass die Wiener IKG die Pro-Österreich-Volksabstimmung mitfinanziert hat; dass Viktor Frankl, dessen Widerstandstätigkeit als Arzt Neugebauer zwar würdigt, im Rahmen der Wochenschrift „Der christliche Ständestaat“ im geistigen Widerstand gegen die NS-Aggression publizistisch aktiv war. Die jüdischen Emigranten, die in den alliierten Armeen für die Befreiung Österreichs kämpften, werden nicht dokumentiert. Die Rolle des Free Austrian Movememt bzw. von Young Austria in England bleibt wegen der dortigen Dominanz jüdischer Kommunisten bei Neugebauer unberücksichtigt.

Neugebauers Gesamturteil über den österreichischen Widerstand fällt so aus: „Zweifellos steht fest, dass die Befreiung Österreichs nicht das Werk des Widerstandes war (und nicht sein konnte), sondern die ausschließliche Leistung der alliierten Streitkräfte“ (261), die wesentlich mehr Opfer zu beklagen hatten als der gesamte österreichische Widerstand. Die relativ rasche sowjetische Einnahme Wiens wertet Neugebauer als rein militärische Widerstandsleistung, ohne den dazu geplanten zivilen Widerstand zu würdigen.
Den Beitrag des Ständestaates zur österreichischen Identität, seine Abwehr des Nationalsozialismus als das entscheidende Momentum der österreichischen Souveränität, kann Neugebauer aufgrund seines deklarierten politischen Standortes weder verstehen noch akzeptieren. Daher verschweigt er die militärischen und paramilitärischen Aktivitäten gegen die nationalsozialistische Aggression von innen und von außen.

Gegenüber der Arbeit Neugebauers über den österreichischen Widerstand ist eine generelle Kritik anzubringen: Neugebauer ignoriert den gesamten, professionell organisierten geistigen Widerstand gegen das NS-Terrorsystem vor der Okkupation. Bei ihm ist keine Rede von Frühdiagnostikern wie P. Cyrill Fischer und Frühwarnern wie Irene Harand, geschweige denn von antinationalsozialistischen Medien, keine Rede weder von marxistischen noch von christlichen Vor-Analysen des Nationalsozialismus, auf die sich jedoch viele der konkreten Personen und Gruppen im Widerstand berufen konnten – jeweils im Gegensatz zu ihren sozialdemokratischen und kirchlichen Führungseliten.

Wesentliche Bedingungen für den mangelnden Widerstand werden von Neugebauer verschwiegen: Die sozialdemokratische Führung hat nach der Okkupation offiziell ihre politische und damit ihre mögliche Widerstandstätigkeit eingestellt. Die führenden sozialdemokratischen Politiker in der Emigration wollten keine Wiedererrichtung Österreichs und daher keine Exilregierung. Als ihren Anteil am antifaschistischen Kampf verstanden sie den Einsatz der Februarkämpfer 1934 gegen den Ständestaat, den Einsatz der Spanienkämpfer und der Emigranten in der UdSSR. Die marxistische Generalprognose war auf die gesamtdeutsche Revolution gerichtet, sodass sich die Wiedererrichtung Österreichs erübrigte. Auf kirchlicher Seite zogen die Eliten die Akkommodation an den NS-Staat vor, sodass sich der Widerstand von Christen zuerst im Gewissen gegen ihre eigenen Kirchen und erst dann gegen die NS-Herrschaft richtete. Neugebauer schenkt sich sogar die Kritik an der kirchlichen Führung, um nicht auch die sozialdemokratische kritisieren zu müssen.

Neugebauer weist des Öfteren im Sinne der Mitschuldthese (gegen die Opferthese) auf den Bevölkerungsanteil der österreichischen NSDAP-Mitglieder, der Karrieristen, Arisierungsgewinner, Mitläufer usw. hin, um im Vergleich dazu die Widerstandsbereitschaft der Österreicher zu relativieren. Er vergisst aber, dass ein Großteil der Österreicher sowohl betrieblich-gewerkschaftlich wie auch kirchlich organisiert war und daher in politischen und in Gewissenskonflikten der jeweiligen Führungselite folgte. Sowohl die Arbeiterschaft als auch die Kirchen haben so gesehen Widerständige zu würdigen, die ohne geistige Unterstützung durch ihre jeweilige Führung in ihrem konkreten Umfeld Widerstand leisteten.

Neugebauer erweckt den Eindruck, dass er den überparteilich organisierten Widerstand deswegen nicht gelten lassen kann, weil dabei die christlich-konservativen Mitglieder eine überparteiliche Zusammenarbeit von Kommunisten und Sozialdemokraten erwarteten und herbeiführten, was ja der sozialdemokratischen Parteidisziplin diametral widersprach.
Neugebauer blendet aus, dass führende Exponenten des Ständestaates als die gefährlichsten Gegner des NS-Terrors im ersten Transport nach Dachau kamen und dort den geistigen Widerstand gegen die NS-Herrschaft überparteilich neu organisiert vorbereiteten.

Die beschriebenen Deutungsweisen Neugebauers entsprechen in Summe dem derzeit gängigen Geschichtsbild, in dem der Ständestaat trotz seiner antinationalsozialistischen Gründungsidee und ohne Anführungszeichen als austrofaschistischer Wegbereiter der nationalsozialistischen Beseitigung Österreichs gilt. Damit ist die vom Ständestaat ausgeschaltete sozialdemokratische Elite aus der Verantwortung, und ihre strategische Erwartung der gesamtdeutschen Revolution muss nicht als katastrophale Fehlprognose eingestanden werden. Somit ist die sozialdemokratische Partei- und Wissenschafts-Elite aus dem Schneider und verwaltet das derzeit an Universitäten und Schulen gängige Geschichtsbild. Widerstandskämpfer werden dafür als Zeitzeugen missbraucht.